Eine kurze Geschichte türkisch-migrantischen Widerstandes (Berlin) – Garip Bali

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Eine kurze Geschichte türkisch-migrantischen Widerstandes (Berlin) – Garip Bali

Einteilung

Dieser Artikel basiert auf den Erfahrungen eines migrantischen Aktivisten in Berlin. Es wird vor allem die Geschichte der türkeistämmigen Migrant_innen anhand der Kämpfe bestimmter Vereine und Bündnisse von Anfang der 1970er bis Mitte 2017 wiedergegeben. Die politische Praxis dieser Vereine und Bündnisse, in denen der Autor durchgehend aktiv involviert war, lässt sich ungefähr in folgende Phasen unterteilen:

TIGB: 1970er bis Mitte 1980er Jahre

Zu Beginn der 1970er Jahre bestand die türkische Community hauptsächlich aus Arbeiter_innen der ersten Generation, sogenannten Gastarbeiter_innen, Student_innen, Menschen die vor dem Militärputsch 1971 geflohen waren und den nachgezogenen Familienangehörigen. Sie trafen und organisierten sich in den verschiedensten Vereinen. Neben den sportlichen und sozio-kulturellen gab es auch einige linke studentische und Arbeiterjugend- Vereine, in denen verschiedene Teile der Community sich vor allem entlang der Politik in der Türkei organisierten. Orientierungspunkte für die politische Ausrichtung des jeweiligen Vereins waren demnach bestimmte politische Bewegungen oder Parteien in der Türkei, mit der sich die jeweiligen Gruppen identifizierten. Auch die regionale, ethnische und konfessionelle Herkunft, sowie die sexuelle Orientierung spielten eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Vereine. Ebenso waren wirtschaftliche Ziele und die jeweilige berufliche Situation von besonderer Relevanz für die Vereinsgründungen. So entstanden in Betrieben, Wohnheimen, Stadtteilen und an den Unis sportliche, sozio-kulturelle und politische Vereinigungen.

Der Verein Türkiye Isci-Genclik Birligi (TIGB, Arbeiter- und Jugendverein aus der Türkei e.V.) wurde Anfang der 1970er Jahre gegründet und setzte sich hauptsächlich aus Arbeiter_innen, Student_innen und Asylbewerber_innen zusammen. Der Anteil von Männern und Frauen war annähernd gleich. Der TIGB hatte seine Vereinsräume zunächst in der Langenscheidtstr. 4 am Kleistpark (Berlin-Schöneberg), bevor er Ende 1979 größere Vereinsräume am Kottbusser Damm 79 (Berlin Kreuzberg) bezog.

Es bestand ein starker Bezug zu den revolutionären Bewegungen in der Türkei. So war es kein Geheimnis, dass bis 1977 die meisten Mitglieder des Arbeiter- und Jugendvereins mit der revolutionären Bewegung »Türkiye Halk Kurtulus Parti – Cephesi« (THKP-C, »Volksbefreiungspartei- und Front der Türkei«) und ab 1977 mit der neu gegründeten Bewegung »Devrimci Yol« (»Revolutionärer Weg«) sympathisierten.

Ebenso wie einige andere Bewegungen, die dem Beispiel Che Guevaras folgend, Anfang der 70er in der Türkei entstanden, hatten auch diese beiden eine besondere Ausstrahlungskraft nicht nur auf viele Menschen in der Türkei, sondern auch auf viele türkeistämmige Migrant_innen in Deutschland. Und deren ideologische Ausrichtung diente als Inspiration für die verschiedensten Aktivitäten des Vereins im bundesrepublikanischen Kontext.

Wegen dieser besonderen Verbindung zu Gruppierungen in der Türkei verlief die Geschichte der Organisierung türkeistämmiger Migrant_innen in Grundzügen parallel zur politischen Entwicklung in der Türkei. 1979 kam es aufgrund unterschiedlicher Haltungen und Positionen zu den jeweiligen Bewegungen in der Türkei zur Spaltung der TIGB. Ein Teil der Mitglieder verließ den Verein am Kottbusser Damm 79 und gründete das »Halkevi« (»Volkshaus«) am Kottbusser Damm 74.

Das Vereinsleben war nicht ausschließlich auf die Verfolgung politischer Anliegen beschränkt, sondern bot gleichzeitig einen Raum für soziales und kulturelles Leben. Mit der Zeit gelangten, wenn auch nicht als politischer Schwerpunkt, die Belange der Migrant_innen, die sich auch selbst als »Ausländer_innen« bezeichneten, auf die Tagesordnung. Neben substanziellen Diskussionen entwickelten sich auch die ersten Aktionen, in deren Fokus die Lebensrealität und die Probleme als »Ausländer_innen« standen.

Das heißt, dass auch hiesige Alltagsrealitäten zum Ausgangspunkt politischer und sozialer Handlungen wurden. Zunächst ging es darum, zu verstehen, wie die Gesellschaft in Deutschland funktioniert und was die staatlich propagierte Integration eigentlich besagte. Aber auch das Wissen darüber, wie sich die ausländischen Kinder besser im vorhandenen Bildungssystem zurechtfinden können, wie die Gesetze am besten im Sinne der Ausländer_innen ausgelegt werden können und wie der Aufenthalt der Migrant_innen am besten gesichert werden kann, stellte die notwendige Basis für weitere Aktionen dar.

Gleichwohl war es wichtig zu verstehen, wie die Chancen der Migrant_innen auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Wohnungsmarkt verbessert werden konnten, da es z.B. eine Zuzugssperre in drei Bezirken (Kreuzberg, Schöneberg und Wedding) gab. Gegen diese sich zuspitzenden Diskriminierungen wurde Stellung bezogen. Die Aktionen und Kämpfe für mehr Arbeiter_innenrechte fanden auch durch Streiks in den Fabriken ihren Ausdruck. Die weithin diskriminierende Situation in Westberlin und der BRD, in denen Migrant_innen zwar für das wirtschaftliche Funktionieren der Gesellschaft arbeiten sollten, ihnen aber kaum Rechte oder Partizipationsmöglichkeiten zugestanden wurden, machte es erforderlich, Demonstrationen gegen die Streichung des Kindergeldes für im Ausland lebende Kinder zu organisieren, und sich als TIGB an der Kampagne für das Wahlrecht für »Ausländer_innen« zu beteiligen. Dafür wurde breit in der Öffentlichkeit mobilisiert und es fanden Kundgebungen vor den Wahllokalen, die von prominenten Politiker_innen aufgesucht wurden, statt, beispielsweise an der Ecke Gralsritterweg/Laurinsteig zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus (1979).

Zudem war der Verein ein lebhafter Ort des Austauschs und der Verbundenheit für die verschiedensten Menschen. Familien, Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, Arbeiter_innen, Student_innen und Asylbewerber_innen bewegten sich in einem sozialen Netz, innerhalb dessen sie Halt in unterschiedlichsten Lebenslagen fanden. Soziale Aktivitäten, wie unter anderem Familienbesuche, Ausflüge, Behördenbegleitungen und das Organisieren von Festen zu verschieden Anlässen stärkten den Zusammenhalt. Theatergruppen, Karatekurse, die Fußballmannschaft »Özenspor« und die Musikgruppe »Yabanel« stellten die sportlich-kulturellen Angebote des Vereins nicht für an Jugendliche dar.

Die im Verein erarbeiteten Theaterstücke und Auftritte erreichten über Berlin hinaus Bekanntheit, und über vorhandene Netzwerke wurden Auftritte europaweit organisiert, wie z.B. in Köln, Darmstadt, Hannover, Hamburg, Kopenhagen und Paris. In Berlin wurden die Theaterstücke im Audimax der TU-Berlin (Straße des 17.Juni 135) und in der Taverne/Passagen (Neukölln) aufgeführt. Diese Aktivität prägte die damaligen Aktivist_innen auch deshalb, weil dieses über mehrere Jahre hinweg ununterbrochen in fast professioneller Leitung fortgesetzte Engagement sowohl eine soziale als auch politische Dimension beinhaltete. Während mehr als einer Dekade (Anfang der 70’er bis Mitte der 80’er Jahre) wurden folgende Stücke in türkischer Sprache immer wieder aufgeführt: ›Pir Sultan Abdal‹, ›Aladağlı Miho‹, ›Alpagut Olayı‹, ›Biz halkız- yeniden doğduk ölümlerden‹.

Die politischen Aktivitäten des Vereins bestanden neben Schulungen und Seminaren, auch in der Teilnahme an den verschiedensten Demonstrationen, wie etwa den 1. Mai-Demonstrationen, Solidaritätsdemonstrationen für die Kämpfe in Chile und Nicaragua und gegen die Militärdiktatur in der Türkei. Darüber hinaus wurde ein Hungerstreik organisiert, um das Schweigen angesichts der Brutalität des Militärputsches in der Türkei zu brechen. Zudem kam es immer wieder zu Straßenschlachten mit reaktionären und faschistischen Kräften in ganz Berlin. Als migrantischer Arbeiter_Innenverein wurden natürlich auch gewerkschaftliche Aktivitäten unterstützt und der Verein beteiligte sich an den Kämpfen gegen die ausgrenzende Ausländer- und Flüchtlingspolitik.

Kurz nach dem Militärputsch am 12. September 1980 hat die Organisation »Devrimci Isci«, zu der sich der Verein TIGB bekannte, einen europaweiten Hungerstreik gegen die Repression in der Türkei durchgeführt. Der einmonatige Hungerstreik sollte das Schweigen über die Brutalität des Putsches brechen. In Berlin fand der Hungerstreik im Mehringhof, Gneisenaustraße 2a statt. Bundesweit wurde die Mauer des Schweigen gebrochen und die deutsche linke Szene wurde über die Zustände und die revolutionären Bewegungen in der Türkei informiert. Später wurde die »Türkei Information« als eine monatlich erscheinende Zeitung bundesweit herausgegeben und in Berlin flächendeckend vertrieben.

Um die unterschiedlichen Kämpfe inhaltlich zu begleiten, wurden als wesentliche Eckpfeiler der Vermittlung die verschiedensten Publikationen herausgegeben. Als wichtigste sind hierbei eine Broschüre zur MHP und den »Grauen Wölfen«, die Zeitungsprojekte »Devrimci Isci« (Revolutionäre Arbeiter), »Türkei Information« und »Sesimiz« (Unsere Stimme) zu nennen.

Es war für alle selbstverständlich, die alltäglichen und sonstigen Probleme in den unterschiedlichsten Lebenslagen gemeinsam zu meistern.

Der Verein finanzierte sich fast ausschließlich durch Eigenmittel (Mitgliedsbeiträge, Spenden u.ä.), nicht, wie es heutzutage üblich ist, durch eine Projektförderung. Bevor TIGB sich Mitte der 1980er seinem Ende näherte, reagierte der Fußballclub Özenspor auf die Drohung neonazistischer Hertha-Fans, »Türken« anlässlich des Länderspiels Deutschland-Türkei im Oktober 1983 im Olympiastadium anzugreifen, indem er mit zwölf unterschiedlichen Fußballmannschaften ein »Internationales Fußballturnier für Freundschaft und gegen Ausländerfeindlichkeit« auf dem Sportplatz Lobeckstraße (Kreuzberg) organisierte. Worüber sogar das ZDF in der Sendung »Kennzeichen D« ausführlich berichtete.

Anlässlich dieses Länderspiels wurden zwei weitere Großaktionen organisiert. Die »Demokrat Ögrenciler Birligi« (DÖB, TU) organisierte eine große Demonstration gegen Rassismus vom Ernst-Reuter-Platz zum Olympia Stadion, und ein Bündnis migrantischer und antifaschistischer Gruppen organisierte eine große Kundgebung am Oranienplatz mit Bühnenprogramm und Livesendung (am 26.10.1983, dem Tag des Spieles).

Trotz dieser aktionsreichen Zeit in Deutschland wirkten sich die Entwicklungen in der Türkei negativ auf die Organisierung linker Menschen hierzulande aus. Linke Bewegungen in der Türkei befanden sich in einer Umbruchsphase. Vor dem Hintergrund der Militärjunta (ab 12.9.1980), die jegliche oppositionelle Bewegung verbot, verfolgte und unterdrückte, war diese Phase geprägt von den Grundsatzdiskussionen über Sinn und Zweck von Organisierung und den gesellschaftlichen Umwälzungen. Sowohl die ideologischen Diskussionen, die zu Spaltungen führten, als auch die Frage nach dem Bezugsland und der Bezugsorganisation spielten eine entscheidende Rolle, wo und wie sich linke Kräfte organisierten bzw. nicht organisierten. Für einen Teil der Linken in Deutschland, gleichgültig ob in der Türkei oder in Deutschland sozialisiert und politisiert, galt es, sich dieser Herausforderung zu stellen. Es galt die Zustände in Deutschland aus einer migrantischen Perspektive zu analysieren und entsprechende Schlussfolgerungen für die politische Praxis zu ziehen.

ADA: Mitte 1980er bis 2000

In dieser Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung der türkischen Linken in Deutschland entstand ADA. Obwohl die Mehrheit der ADA-Gründer_innen eher mit der Bewegung »Devrimci Yol« (Revolutionärer Weg) in der Türkei sympathisierte, da ein Teil von ihnen aus dem TIGB kam, gab es von Anfang an die Intention, allen Raum zu bieten, sich mit der Realität in Deutschland auseinanderzusetzen und eine entsprechende politische Praxis zu entwickeln. Dies ist auch einigermaßen gut gelungen. Menschen unterschiedlichster politischer Ausrichtungen fühlten sich angesprochen, sich in die verschiedenen Betätigungsfelder des Vereins einzubringen.

Die transparenten Strukturen (kein Vorstand, stattdessen Koordinationsgruppe, Arbeitsgruppen, monatliches Plenum) boten jedem Interessierten die Möglichkeit, sich in die Diskussionen und Entscheidungsfindungen einzubringen. Obwohl der Verein ADA grundsätzlich eine ähnliche Plattform für soziale und politische Aktivitäten wie TIGB darstellte, gab es dennoch einige markante Unterschiede: Es war nicht mehr der Verein von Dutzenden Aktivist_innen und Hunderten Sympathisant_innen, für die der Bezug zu einer der Organisationen in der Türkei existentiell war.

Stattdessen wurden, damals neu für einen linken Verein, über mehrere Jahre hinweg Computerkurse angeboten. Ebenso neu für türkische Linke war, dass ADA, v.a. in seinem neuen Vereinslokal in der Reichenberger Straße 63 a (Souterrainräume im Vor- und Hinterhaus eines ehemals besetzten Gebäudes) in intensivem Austausch mit autonomen Strukturen stand und mit diesen zusammenarbeitete. Auch mit studentischen Strukturen (AStA, Demokrat Ögrenciler Birligi, »Bund demokratischer Studenten«) fand eine rege Zusammenarbeit statt. Aufbauend auf den Erfahrungen von TIGB, stellte ADA einen Ort für unterschiedliche politische wie kulturelle Arbeit dar. Es wurden Kulturabende organisiert sowie Informations- und Diskussionsveranstaltungen zur Türkei und migrationsbezogenen Themen abgehalten.

Um den Wirkungsgrad der politischen Arbeit zu erweitern, wurden neue Arbeitsfelder für die politische Öffentlichkeitsarbeit erschlossen. Es gab auch eine Gruppe aus dem Verein, die Fernsehsendungen produzierte, die über den Berliner Offenen Kanal gesendet wurden. Diese Gruppe wechselte einige Jahre später zum Spreekanal und betrieb nach einer gewissen Verselbstständigung professionelle Fernseharbeit, – und zerfiel später leider aufgrund personeller Uneinigkeiten.

Die Zeitschrift »ırkçılığa ve faşizme karsı inisiyatif« (Initiative gegen Rassismus und Faschismus), die von 1994 bis 1996 mit zehn Ausgaben zuerst monatlich, später zweimonatlich in Türkisch und Deutsch erschien, hatte sich als wichtigstes Arbeitsfeld des Vereins etabliert. Mit der Zeitschrift inisiyatif wurde eine antirassistische Politik in Theorie und Praxis intensiver und kontinuierlicher denn je verfolgt. Da der Name inisiyatif nicht nur ein Zeitschriftenname, sondern der Name eines bundesweiten Netzwerks mit Gruppen in Duisburg, Nürnberg, Bremerhaven, Bremen, Ulm und anderswo war, wurde sie weit über die Grenzen Berlins hinaus verbreitet.

In Berlin entwickelte sich ADA ab Anfang der 90er Jahre mehr und mehr zu einem Ort für die Organisierung und Koordination antirassistischer Bündnisarbeit aus migrantischer Perspektive. Dadurch konnten verschiedene Jugendgruppen für antirassistische Bündnisarbeit zusammengebracht und antirassistische Kulturveranstaltungen sowie antifaschistische Stadtrundfahrten organisiert werden. Anlässlich des zunehmend rassistischen Klimas wurde an der Entwicklung alternativer Migrationspolitik mit großen Veranstaltungen wie z.B. »40 Jahre Migration aus der Türkei« im damaligen »Kato« (Saal im Gebäudes des U-Bahnhofs Schlesisches Tor) gearbeitet. Ebenso wurden Flüchtlinge durch Beratungen, Begleitung, Lagerbesuche und bei der Besetzung des TU-Mathematikgebäudes 1991-1992 unterstützt. → S. XX

An den antifaschistischen Aktionen und der Gegenwehr gegen die zunehmenden Angriffe der Rassist_innen und Neonazis nach dem Fall der Mauer hat sich auch ADA beteiligt. Einerseits wurde zu den großen antifaschistischen Demonstrationen in Berlin, Hoyerswerda, Rostock und Stuttgart mobilisiert, andererseits wurde die Mobilisierung des lokalen Selbstschutzes vorangetrieben, um bspw. im Reichekiez (Kiez Reichenberger Straße) gegen eventuelle Brandstiftungen gewappnet zu sein. Als am 12. Mai 1989 der Jugendliche Ufuk Sahin im Märkischen Viertel ermordet und am 13. November 1991 der Jugendliche Mete Eksi am Kudamm erschlagen wurde, beteiligte sich ADA an den darauffolgenden antirassistischen Demonstrationen. Die beständige Bedrohung machte es erforderlich, noch intensiver den Selbstschutz zu organisieren. Aus diesem Grund organisierte ADA eine Demo für die massenhafte Beantragung von Waffenscheinen, unterstützte die antifaschistischen Aktionen von Antifa Genclik und solidarisierte sich mit den Inhaftierten, nachdem es zu Verhaftungen von Aktivist_innen der Gruppe gekommen war (→ S. XX Kap. Antifa).

Ende der 90er initiierte der Verein Allmende ein Bündnis gegen Rassismus gegen die Kampagne des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der während des Wahlkampfs Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft sammeln ließ. So wurden u.a. Infotische der CDU beim Unterschriftensammeln am Wittenbergplatz, in der Karl-Marx-Straße und anderswo mit Protesten begleitet, und in der Technischen Universität und im SO36 Podiumsdiskussionen veranstaltet.

Gleichzeitig bahnte sich Ende der 90er eine Wende bei ADA an. Zum einen gelangten viele Aktivist_innen in einen neuen Lebensabschnitt (Familiengründungen, Abschluss des Studiums etc.), zum anderen entwickelten sich für einen Teil der ADA-Aktivist_innen neue Perspektiven. Neue politische Projekte in der Türkei strahlten Hoffnungen für neue Organisierungen aus. Trotz des bröckelnden Zusammenhalts gab es den Versuch mit einem neuen Konzept bundesweit eine neue antirassistische Organisationsstruktur zu schaffen. Jedoch fruchteten die angefangenen Diskussionen nicht, da es doch sehr unterschiedliche Vorstellungen von möglichen Organisierungsformen gab. Zwar löste sich der Verein ADA allmählich auf, doch am Ende dieses Prozesses fanden sich fast alle Ex-ADA-Aktivist_innen zunächst im A6-Laden und anschließend im neu gegründeten Verein Allmende mit vielen anderen zusammen wieder.

A6-Laden: 2000 bis 2004

Bevor es zur eigentlichen Gründung des Vereins Allmende kam, durchliefen die Gruppen eine Vorphase des praktischen Handelns, in der die verschiedenen Kreise mit ihren unterschiedlichen Hintergründen gemeinsam agierten. Der A6-Laden (Adalbertstraße. 6, ein ehemals im Jahr 1980 besetztes Haus) stellte in dieser Orientierungsphase einen wichtigen Bezugsrahmen für Interessierte aus ADA, dem Türkei-Zentrum und Menschen ohne Vereinshintergrund dar, um gemeinsam politisch aktiv zu werden.

Anfang 2001 gab es eine Unterschriftenkampagne gegen die Verlegung des türkischen Konsulats nach Potsdam, weil die Überwindung der vielen konsularischen Vorgänge noch mehr Zeit und Kosten bedeutet hätten. Ca. nach einem halben Jahr wurde die Verlegung eingestellt. Eine weitere erfolgreiche Unterschriftenkampagne war 2003 für den Doppelpass statt der Ausbürgerung von 50.000 türkeistämmigen Menschen, deren unerlaubte Doppelstaatsangehörigkeit aufgeflogen war. Die Doppelpasskampagne wurde begleitet von Infoveranstaltungen (im Familiengarten, Oranienstr. 34), Infotischen an zentralen Plätzen (u.a. Kottbusser Tor), Beratungen im A6-Laden und einer Kundgebung vor dem Innenministerium in Alt-Moabit 100.

Die inhaltliche Breite zeigte sich unter anderem bereits bei der Kundgebung »Karanlığa karşı Aydınlık« (Aufklärung gegen die Finsternis) im Januar 1997 am Kottbusser Tor und später an der Teilnahme an den Montagsdemos gegen Hartz IV, zu der eine Infobroschüre zur Agenda 2010 auf türkisch herausgegeben wurde.

Des Weiteren organisierte dieser Zusammenhang alljährlich das Gedenken an den kommunistischen Lehrer Celalletin Kesim, der am 5. Januar 1980 am Kottbusser Tor von faschistischen Kräften aus der Mevlana Moschee beim Flugblatt verteilen erstochen worden war.

Bei einem Unfall am 3. November 1996 in Susurluk trat die Verflechtung des türkischen Staates mit faschistischen Killern, Mafia und Dorfschützern zu Tage. In dem zu Schrott gefahrenem Mercedes saßen der stellvertretende Polizeipräsident von Istanbul, Abdullah Çatlı, der türkische Großgrundbesitzer, Parlamentsabgeordnete und Clanchef einer Dorfschützer-Großfamilie, Sedat Edip Bucak, und das führende Mitglied der rechtsextremen Partei Graue Wölfe, Hüseyin Kocadağ, ein gesuchter Killer.

Allmende: 2004 bis heute

Um die Idee eines Vereins mit migrationspolitischem Schwerpunkt der interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen, fand in einem Lagerraum in der Ritterstraße ein großes Treffen statt, zu der ca. 100 Personen kamen. Die Gründungsversammlung fand dann mit ca. 70 Menschen im Kreuzberg-Museum, Adalbertstr. 95a, statt.

Vor dem Verlassen des A6-Ladens führte Allmende mit antideutschen Gruppen, die den Laden auch nutzten, eine heftige politische Auseinandersetzung. Unsere im Laden aufgehängten Plakate gegen das diktatorische Erdoganregime (z.B. Ein Erdoganplakat mit Hitlerbart) wurde von Antideutschen abgehängt. Und wir wollten die Diffamierung der palästinensischen Sache und der Linken generell, v.a. der Friedensbewegung bzw. der Antikriegsaktionen nicht länger hinnehmen.

Schließlich entzog der neue Besitzer der Adalberstr. 6 den Laden der Gruppennutzung Allmende gelang es, ohne große Unterbrechung neue Räume am Kottbusser Damm 25/26 zu beziehen, die zudem als Treffpunkt für alle sozial-politischen Gruppen dienten. Allmende widmete sich schwerpunktmäßig der Migrationspolitik, dem Kampf gegen Rassismus und führte dazu Veranstaltungs-, Film- und Lesereihen durch, die sich thematisch auch der zweiten Einwander_innengeneration widmeten.

Aber auch Entwicklungen in der Türkei waren immer wieder Gegenstand von Info- und Diskussionsveranstaltungen. So hat Allmende anlässlich des 30. Jahrestages des türkischen Militärputsches eine Veranstaltung mit Redner_innen aus der Türkei/Kurdistan in der Dersim Gemeinde am Waterloo-Ufer 5-7 und mit anderen Gruppen eine Demonstration vom Hermannplatz bis zum Kottbusser Tor durchgeführt.

Auch aktuelle Ereignisse wurden als Anlass für politische Aktionen genommen. Anlässlich der Bundestagswahlen 2009 gab es am 27. September eine unangemeldete T-Shirt-Aktion vor dem Wahllokal in der Dorotheenstr. (Humboldt Universität), in dem Angela Merkel vor Dutzenden Kameras ihre Stimme abgeben wollte. Die einzelnen Buchstaben auf den T-Shirts von Demonstrant_innen bildeten das Wort »WAHLRECHTSLOS«, und als Merkel ankam, wurde lautstark die Parole »Wahlrecht für Alle« gerufen. Wichtig ist zu erwähnen, dass zwar alle deutschen Medien anwesend waren, aber keines von ihnen über die Aktion berichtete. Dafür widmete die Berliner türkische Presse der Aktion einen relativ großen Platz inklusive Fotos. Kurz nachdem Merkel das Lokal verlassen hatte, griff die Polizei ein, nahm die Personalien auf und einen Aktivisten fest.

Ende 2009 verstärkte sich nochmals das Engagement von Allmende gegen Rassismus. Auf die rassistischen Aussagen von Thilo Sarazzin (SPD) in einem Interview mit »Lettre international« reagierte Allmende mit einer kurzfristig organisierten Kundgebung am 19.10.2009 vor der SPD-Zentrale Wilhelmstraße 141, die vor allem in der türkischen Presse große Resonanz fand. Eine Woche später tat sich ein Bündnis auf Einladung von Allmende zusammen, um sich mit der verlogenen, Rassismus verschleiernden Integrationspolitik auseinanderzusetzen. Kurz darauf wurde die Kampagne »Integration – Nein Danke!« mit einer Auftaktveranstaltung im Familienzentrum (Aile Cay bahcesi, Familiengarten, Oranienstr. 34) gestartet. Darauf folgten unzählige Infoveranstaltungen, Infotische, Interviews und das Verteilen eines siebensprachigen Flugblatts. Zudem organisierte Allmende zusammen mit MIRA (Netzwerk kritische Migrationsanalyse) eine Ringvorlesung an der Humboldt-Universität, zu der auch ein Buch (»Wer macht Demo_kratie«) erschienen ist.

2011 lag das Anwerbeabkommen mit der Türkei 50 Jahre zurück. Dies nahm Allmende zum Anlass, um auf 50 Jahre Ungerechtigkeit und den eigenen migrantischen Widerstand hinzuweisen.

Hierfür wurden erinnerungspolitische Touren durchgeführt. Mit einem Bus ging es in die Stresemannstr. 30, wo in den 60er Jahren ein Frauenwohnheim war. Eine der damaligen Bewohnerinnen sagte: »Zu 90 haben wir im Wohnheim gewohnt, in der Stresemannstr., alles Frauen zwischen 18 und 26 Jahren, alles Montiererinnen bei Telefunken, unser Stundenlohn betrug 2,38 Mark.« Weiter ging es zum Denkmal für den Asylbewerber Cemal Kemal Altun, der sich wegen seiner bevorstehenden Auslieferung an die Türkei am 15. August 1983 aus dem 6. Stock des Verwaltungsgebäudes in der Hardenbergstr 31 in den Tod gestürzt hatte. Nach dem Besuch am Gedenkstein für Mete Eksi am Adenauerplatz führte die Tour weiter zu Siemens, wo in den 60er und 70er Jahren Hunderte von türkeistämmigen Arbeiter_innen schufteten, bis zum Flüchtlingslager in der Motardstr. 101 a, wo die Tour endete.

Am 23.11., ca. drei Wochen nach der Selbstenttarnung des NSU am 4.11.2011., organisierte Allmende eine Spontan-Kundgebung am Kottbusser Tor mit dem Transparent »Der Staat ist verantwortlich für die rassistischen Morde«.

2012 und 2013 beteiligte sich Allmende an der Vorbereitung und Gestaltung des Festivals gegen Rassismus am Blücherplatz. Allmende ging es vor allem um eine breite Beteiligung und Vernetzung aller Menschen, die Rassismus als großes Problem sehen.

Insbesondere nach dem Bekanntwerden der NSU-Morde war jeder Mord an einer Migrant_in noch einmal mehr Grund, diesem konsequent nachzugehen. So verhielt es sich auch mit dem Mord an dem Jugendlichen Burak Bektas am 5.4.2012 in Neukölln (Rudower Str./Möwenweg), dessen Mörder noch immer nicht bekannt und gefasst ist. Allmende nahm teil an der Gründung und an den Aktivitäten der Initiative zum Gedenken an Burak Bektas und hat bei den Gedenkveranstaltungen und Demos in Neukölln stets mitgewirkt.

Ende 2013 wurde der Mietvertag für die Räume von Allmende am Kottbusser Damm 25/26 nicht verlängert. Da alle schlichtenden Bemühungen scheiterten, entschied sich Allmende für die Kampagne »Allmende-bleibt«: Kundgebungen vor dem Haus, ein Hoffest und die Solidarität der wohnpolitischen Gruppen schafften eine gewisse Öffentlichkeit, die aber die vorzeitige und brutale Zwangsräumung durch die Polizei am 26. März 2015 nicht verhindern konnten.

Sein 10-jähriges Jubiläum hat Allmende mit einem Kulturprogramm und einer Ausstellung über die Aktivitäten von Allmende zusammen mit solidarischen Menschen und Gruppen gefeiert.

Kurz vor der Zwangsräumung führten interne Diskussionen zu einer Spaltung des Vereins, sodass einige nach der Zwangsräumung dem Verein fernblieben.

Trotz aller Widrigkeiten beschlossen die wenigen Übriggebliebenen, sich weiter regelmäßig zu treffen und diverse Aktivitäten fortzusetzen. Bemerkenswert ist eine Veranstaltung Ende 2015 im Nachbarschaftshaus Cuvrystr. 13/14 mit der Schriftstellerin Mely Kiyak bezüglich der erneut aufflammenden Hetze gegen Flüchtlinge, sowie eine Lesung des Buches »Orhan Keskin« (Name eines Revolutionärs von Devrimci Yol, der in den Kerkern von Diyarbekir bei einem Hungerstreik ums Leben kam) mit dem Autor Azad Sagnic und dem Verleger Yalcin Burkev in der Stadtbibliothek Adalbertstr. 4. Schließlich fand Allmende bei der Kub (Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migranten) in der Oranienstr. 159 neue Räumlichkeiten, die mit einer Eröffnungsveranstaltung am 15. Oktober 2017 eingeweiht wurden. Damit ist Allmende offiziell wieder an drei Tagen (Fr-So) in der Woche ansprechbar.

Plataforma: 2004 – 2008

An der »Plataforma der Migrant_innen und Flüchtlinge«, die sich auf dem 10-jährigen Jubiläumskongress von The Voice gründete, beteiligte sich Allmende von Anfang an. Die erste große Aktion der Plataforma war die Organisierung einer Veranstaltung zur Novellierung des »Ausländergesetzes« im Audimax der Humboldt-Universität, auf der mehrere Rechtsanwälte über die restriktiven Änderungen des Ausländergesetzes informierten. Die Information und Beratung der Flüchtlinge sowie Besuche in den Flüchtlingsheimen im Umland gehörten zum Standardprogramm der Plataforma-Aktivist_innen. Bei einem Aktionstag 2006 gegen Abschiebungen wurden alle Parteizentralen (CDU, SPD, Grüne, FDP und PDS) mit zwei Bussen aufgesucht, um davor zu protestieren. Auch an der Gründung der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« und der Organisierung und Mobilisierung der Gedenkdemo in Dessau war Plataforma in den Anfangsjahren aktiv beteiligt.

Bündnis gegen Rassismus (BgR): 2011 – 2013

Nach der Selbstenttarnung des NSU kamen auf Einladung des Migrationsrates ca. 100 Menschen aus verschiedenen politischen Kreisen im Familienzentrum (Oranienstraße 34) zusammen, um das Bündnis gegen Rassismus zu schmieden. Auftakt des Bündnisses war am 10. Dezember 2011 (Tag der Menschenrechte) eine kurzfristig organisierte Demonstration in Gedenken an die Opfer des NSU und als Protest gegen die Mitverantwortung des bundesdeutschen Staates. Während zu der ersten Demo am 10.12.2011., die vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor führte, ca. 800 Menschen kamen, beteiligten sich an der zweiten Demo vom Oranienplatz bis zum GTAZ in Treptow ca. 4.000 Menschen. Ein Grund für die große Beteiligung war, dass auch die v.a. von CW-Gruppen bezeichnete »weiße Linke« in Form der Interventionistischen Linke für die Demo mobilisierte. Allerdings ist es nur eine vermeintlich weiße Linke, die mit dem suggestiv abwertenden Begriff belegt wird, zumal ein Teil der aktiven Menschen bei der IL ebenfalls eine Migrationsgeschichte haben.

Interne Diskussionen entlang der Critical Whiteness Theorie, nicht nur im Bündnis gegen Rassismus, sondern auch im Festivalbündnis gegen Rassismus, ließen eine konstruktive Mitarbeit von Allmende nicht mehr zu, da ein zu großer Teil der CW-Anhänger_innen, die Möglichkeit, in einem breiteren Kreis gegen Rassismus aufzutreten, als begrenzt erachtete.

Als die mediale Hetze gegen Rom_nja einen neuerlichen Höhepunkt erreichte, hat das Bündnis gegen Rassismus zusammen mit Rom_nja am 3.3.2012 eine Demo vom Hermannplatz bis tief nach Neukölln organisiert.

Nichtsdestotrotz ist es zu beobachten, dass sich in den letzten ca. sieben Jahren über die einengenden Identitätskonstrukte hinaus verschiedenste Formationen, Initiativen und Bündnisse gegen Rassismus und rechten Terror bilden, die die Hoffnung auf eine gerechtere und solidarische Gesellschaft am Leben erhalten.

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